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Die Lüge von der „Mobilen Geißel“

mobilegeisel„Österreicher verzichten lieber auf Sex als auf Handy“ – so und ähnlich titelten Österreichs Schund- und Qualitäts-Zeitungen gestern. „80 Prozent leiden unter eingebildetem Handyläuten“ und „Der durchschnittliche Teenager in Österreich checkt fast 90 Mal am Tag sein Mobiltelefon“. Allesamt hatten sie eine APA-Aussendung übernommen. Aber wie kommen solch alarmierende Aussagen zustande? Und was steckt tatsächlich dahinter?

Nachlesen kann man die Meldung nicht nur auf Heute und Kleine Zeitung, sondern auch bei Presse und Standard. Alle haben sie ungeprüft eine Aussendung der APA übernomen – die diese ungeprüft vom Wiener Neudorfer Marktforschungsinstitut Marketagent.com übernommen hat. Dabei wäre ein kurzer Gegencheck kein Problem gewesen: Sowohl die originale Presseaussendung ist auf der Website von Marketagent.com abrufbar, als auch die Auswertung der Umfrageergebnisse.

Um mir ein Bild davon zu machen, wie die Ergebnisse einer tendenziösen Umfrage auf ihrem Weg durch die Medien noch weiter tendenziös verdreht werden, habe ich die Aussagen aus dem Standard-Artikel einfach Mal mit dem verglichen, was Marketagent.com als Auswertung der Umfrage publiziert hat.

  • „60 Prozent haben ihr Handy im Schlafzimmer liegen, 20 Prozent in Hörweite.“
    Aber laut Auswertung haben es nur 43% eingeschaltet.
  • „Die Österreicher könnten eher eine Woche lang auf Sex als auf Handy und Internetzugang verzichten.“
    Die Frage lautete: „Worauf könnten Sie ohne Probleme eine Woche lang verzichten?“ Tatsache ist ja, dass viele Menschen Handy und Internet täglich für ihre Arbeit benötigen. Wie sollen sie also darauf verzichten, außer im Urlaub? – NICHT gefragt wurde übrigens, ob man eine Woche lang ohne Probleme auf sein Auto, auf’s Essen, auf’s Schlafen oder auf’s Atmen verzichten könne.
  • „Zwei von fünf Befragten sind überhaupt uneingeschränkt, rund um die Uhr, erreichbar.“
    Gegenüber Festnetzzeiten also ein Rückgang um fast 60%. Damals musste man den Hörer neben’s Telefon legen, wenn man nicht erreichbar sein wolte.
  • „Knapp 80 Prozent leiden zumindest fallweise unter eingebildetem Handyläuten.“
    Die Frage lautete: „Kennen Sie das, Sie glauben, dass Ihr Handy läutet/vibriert, haben sich das aber nur eingebildet?“ Also keine Rede von „leiden“.  – „Öfters“ oder „fallweise“ haben übrigens nur 35% angekreuzt und 43% passiert das „selten“ – die wurden in der Presseaussendung den „fallweisen“ zugeschlagen.
  • „Fast zwei Drittel können sich ein Leben ohne Mobiltelefon nicht vorstellen.“
    Von den 63% Nein-Antworten sind allerdings 50% „Nein, eher nicht“.
  • „84 Prozent wüssten nicht, wie sie ein Jahr ohne Internet auskommen.“
    Die Frage lautete: „Können Sie sich vorstellen für ein Jahr gänzlich auf die Internet-Nutzung zu verzichten?“ Warum sollten sie auch verzichten? Von „nicht ohne Internet auskommen“ war in der Umfrage nicht die Rede.
  • „Regelrechtes Suchtverhalten zeigten die befragten Jugendlichen. ‚Der durchschnittliche Teenager in Österreich checkt fast 90 Mal am Tag sein Mobiltelefon. Bei acht Stunden Schlaf wäre das fast alle zehn Minuten‘, sagte Thomas Schwabl, Geschäftsführer und Gründer von Marketagent.com.“
    Traue nur der Statistik, die Du selbst gefälscht hast. Der Durchschnitt wird durch einzelne Ausreisser stark verzerrt. Aussagekräftiger ist der Median oder Mittelwert. Da liegt die eine Hälfte der Antworten drüber, die andere Hälfte unter dem Wert. In der Auswertung hat Marketagent.com übrigens sowohl den Durchschnitt als auch den Mittelwert ausgewiesen. Zur Häufigkeit der Handy-Kontrolle:
    Jugendliche: Durchschnitt 88 Mal pro Tag – Mittelwert 15Mal pro Tag
    Insgesamt: Durchschnitt 20 Mal pro Tag – Mittelwert 5 Mal pro Tag.
  • „So findet es jeder dritte Jugendliche zwischen 14 und 19 Jahren sehr problematisch, wenn das Handy zu Hause vergessen wurde.“
    Und wie verabsreden sich die anderen zwei Drittel mit ihren Freunden und Freundinnen?
  • „Während der Durchschnittsösterreicher rund zehn Textnachrichten pro Tag verschickt, schreibt ein Teenager im Schnitt rund 25 täglich – das sind 750 Nachrichten im Monat.“
    Insgesamt: Durchschnitt 10 – Mittelwert 2
    Jugendliche: Durchschnitt 25 – Mittelwert 10
  • „Jeder elfte Österreicher hat schon einmal eine Beziehung per SMS, MMS oder WhatsApp beendet.“
    Genauer gesagt: 8,9%. Der Anteil der 14- bis 19jährigen am Sample beträgt übrigens 9,4%.
  • „Knapp ein Drittel gibt an, schon einmal eine digitale Nachricht mit erotischem Inhalt versendet zu haben, unter den 20-bis 29-Jährigen sogar jeder Zweite.“
    Ist das jetzt viel oder wenig?

Umfrageergebnisse, die in der Pressemitteilung bzw den Artikeln fehlen:

  • 64 Prozent glauben, dass Krankheiten wie das Burn-out-Syndrom durch die permanente Erreichbarkeit mittels Handy und Internet gefördert werden.
    Aber: Nur 6% haben selbst häufig das Gefühl, dass Sie durch die permanente Erreichbarkeit überfordert sind und dass dadurch der Stress zunimmt.
  • Und: Ein Viertel der Erwachsenen UmfrageteilnehmerInnen simst regelmäßig am Steuer.

Diese Erkenntnisse mussten den RedakteurInnen der Qualitätsmedien leider verborgen bleiben. Sie scheiterten an der Recherche nach der Internetadresse von Marketagent.com.

Filed under: Marginalien, Web 1-2-3.0

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